So viele Sachen, um die wir uns zu kümmern haben. Wir müssen Geld verdienen, unsere Beziehungen pflegen, unsere Gesundheit nicht vernachlässigen und wollen auch mal unsere Freizeit geniessen.

Stelle dir die Bereiche deines Lebens, wie Beziehungen, Gesundheit, Arbeit und Freizeit, als Bälle vor, die wir tagtäglich jonglieren.

Was passiert, wenn wir einen der Bälle fallen lassen? Das kommt ganz auf den Ball an. Nicht alle Bälle bestehen aus dem gleichen Material. Lässt du den Arbeit-Ball fallen, ist das nicht so schlimm. Er ist aus Gummi. Er prallt am Boden ab und kommt zurück.

Bei unseren Beziehungen und unserer Gesundheit sieht die Sache etwas anders aus. Diese Bälle sind aus Glas. Vielleicht zerspringen sie nicht gleich beim ersten Aufprall, aber sie bekommen mindestens Kratzer, die jedes Mal etwas tiefer werden. Und eines Tages kommt der Fall, der den Ball zersplittern lässt.

Nur, weil uns unsere Partnerin oder unser Partner nicht bei jedem Streit verlässt, heisst das nicht, dass die Beziehung nicht jedes Mal einen kleinen Schaden davonträgt. Nur, weil wir nicht nach jeder fettigen Wurst oder nach jedem Tag mit zu wenig Bewegung einen Herzinfarkt erleiden, heisst das nicht, dass unsere Gesundheit nicht darunter leidet.

Warum fokussieren wir uns dann hauptsächlich auf die Bälle, die einfach am Boden abprallen wie die Arbeit, statt auf die, die irreparablen Schaden nehmen, wenn wir sie fallen lassen? Warum zeigen wir acht Stunden am Tag auf Arbeit unser bestes Ich und sind abends zu erschöpft, um uns um unsere Partner und Kinder zu kümmern? Feierabend ist eigentlich nicht wirklich Feierabend – eigentlich würde dann einfach der zweite Teil des Tages beginnen, welchem wir mindestens gleich viel Aufmerksamkeit widmen sollten wie den Stunden bei der Arbeit.

Ich weiss nicht, wie es dir geht, aber so viel Energie habe ich nicht. Deswegen haben wir unser Arbeitspensum auch reduziert.

Aber glaube nicht, dass es damit getan ist! Die neu gewonnene Freizeit füllt sich schnell mit neuen Dingen, die deine Energie konsumieren und deine Aufmerksamkeit von den Glasbällen wegleiten.

Kleine Anekdote dazu aus meinem persönlichen Leben:

Wir hätten uns hier in Ecuador gerne ein Auto gekauft, um das Land zu bereisen. Viele Artikel über den Autokauf in Ecuador haben aber berichtet, dass man dabei oft über den Tisch gezogen würde und dass Gebrauchtwagen hier sehr teuer wären. Da kauft man dann ein Auto für 8’000$ oder mehr mit Zylinderkopfschaden und schlechter Kompression, ohne es zu wissen.

Das war für mich immer ein Alptraum-Szenario und die Berichte sehr entmutigend. Also habe ich begonnen, mich damit auseinanderzusetzen. Jetzt, viele YouTube-Nachmittage und -Abende später, weiss ich nicht nur, wie ich bei der Probefahrt eines Gebrauchtwagens einen Zylinderkopfschaden erkenne, sondern auch, wie ich bei meinem eigenen Auto diagnostiziere, ob in einem Zylinder ungenügende Kompression vorliegt, und ob es am Ansaugventil, Auslassventil, an den Kolbenringen oder an der Zylinderkopfdichtung liegt, und wie ich den Schaden behebe. Ausserdem habe ich wahrscheinlich zu fast jedem Bauteil eines Autos mindestens ein Video geschaut, in welchem erklärt wird, wie festgestellt wird, ob es ersetzt werden muss, und auch wie es ersetzt wird.

Klar, in der Praxis habe ich noch nichts davon angewandt, aber mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass ich mit etwas zusätzlicher Recherche fast jedes Problem an einem Auto selber lösen könnte, und dass es jetzt nicht mehr so einfach ist, mich beim Kauf zu verarschen.

Von 2009 bis 2015 besassen wir einen 2000er Audi A3 und aus Neugierde habe ich einmal nachgerechnet, wie viel Geld wir in Reparaturen und die Wartung dieses Auto steckten.

Hier ist das Ergebnis:

Service- und Reparaturkosten für unseren Audi A3 pro Jahr

Total haben wir in sieben Jahren 14’858 Franken dafür ausgeben. Hierbei gingen 7’437 Franken der Kosten fürs Material und 7’421 Franken für die Arbeit der Mechaniker drauf.

Was wäre gewesen, wenn ich die Arbeiten alle selber ausgeführt und nur das Material bezahlt hätte? Wie hätten sich die 7’421 Franken, die dann übrig geblieben wären, entwickelt, wenn wir sie während dieser sieben Jahren in ein Aktienportfolio mit 5% realer Rendite gesteckt hätten?

Aus diesen 7’421 Franken, investiert zwischen unserem 20. und 26. Lebensjahr, wären, bis wir im Jahr 2054 65 Jahre alt werden, über 60’000 Franken geworden! Wohlgemerkt ohne nach dem 26. Lebensjahr noch mehr zu sparen, sondern wirklich nur diese 7’421 Franken investiert während den Jahren 2009 bis 2015.1 Das ist die Magie des langen Anlagehorizonts. Wenn du jung bist und diese Zahlen liest, dann weisst du, was du jetzt zu tun hast.

Und was wäre, wenn wir das Auto 2015 nicht verkauft hätten, ich jedes Jahr bis zum Alter von 65 alle Reparaturen selber ausgeführt hätte und die 1’060 Franken, die wir dadurch durchschnittlich pro Jahr gespart hätten, regelmässig investiert hätte? In diesem Fall hätten wir bis 2054 fast 190’000 Franken auf dem Konto! Gemäss 4-Prozent-Regel würde dieses Vermögen ein monatliches Einkommen von rund 630 Franken generieren – mehr als ein Viertel einer maximalen AHV-Rente!

Ich spreche hier von inflationsbereinigten 190’000 Franken Vermögen und 630 Franken passivem Einkommen – die effektiven Beträge wären höher, aber sie hätten den Wert von heutigen 190’000 bzw. 630 Franken.

Erwartetes Vermögen bis 2054 bei regelmässigem Anlegen von gesparten Kosten für Automechaniker

Ich weiss ja nicht, wie es dir geht, aber mich flasht es jedes Mal, wenn ich solche Zahlen sehe. Es ist auch egal, wenn du nicht weisst, was eine Zylinderkopfdichtung ist, denn ich wusste es bis vor ein paar Wochen auch nicht genau. Es ist einfach verrückt, was wir uns mit den heutigen Hilfsmitteln alles selber beibringen können und was es für positive Konsequenzen haben könnte. Die gleiche Rechnung könntest du beispielsweise auch für deine Coiffeur-Ausgaben machen – sich selber die Haare zu schneiden, ist nicht besonders schwer (es muss auch nicht so perfekt werden, wie du meinst).

Weil ich das alles so spannend finde, fällt es mir oft auch schwer, mich ausreichend auf die Glasbälle zu konzentrieren. Es gibt so viele interessante Fähigkeiten, die man lernen, und so viele erstaunliche Zahlen, die man ausrechnen könnte!

Selbst in diesem Artikel, in welchem es eigentlich um die Glasbälle gehen sollte, bin ich schon wieder abgeschweift.

Damit hat auch Anika täglich zu kämpfen.

Unsere Dialoge laufen regelmässig so ab:

Anika: „Hey, schau mal hier!“
Anika (10 Sekunden später): „Oh, jetzt hast du’s verpasst.“
Roli (1 Minute später): „Hm? Was?“

Oder so:

Anika: „Morgen machen wir das so und so und ich verräume Gegenstand X hierhin und Gegenstand Y dorthin.“
Roli (5 Minuten später): „Sag mal, weisst du wo Gegenstand X ist?“
Roli (am nächsten Tag): „Wie sollen wir das heute machen?“
Anika: „Wieso rede ich überhaupt mit dir?“

Zu meiner Verteidigung: Als gebürtige Berlinerin spricht Anika manchmal mehr und schneller als ich (langsamer und oft in Gedanken versunkener Schweizer) verarbeiten kann.

Trotzdem muss ich ihr und den anderen Glasbällen mehr Aufmerksamkeit schenken. Jetzt handelt es sich bei den Dingen, die ich wegen meiner Unaufmerksamkeit verpasse, vielleicht nur um eine lustige Pirouette eines Hundes oder um einen Vogel mit komischer Frisur – später wären es die ersten Schritte und Worte unserer Kinder.

Jedes „Wieso rede ich überhaupt mit dir?“ oder „Oh, jetzt hast du’s verpasst.“ aus Anikas Mund stellt einen kleinen Kratzer in unserer Beziehung dar. Jedes Mal werden die Kratzer ein bisschen tiefer und wenn man nicht aufpasst, lassen sie sich irgendwann nicht mehr auspolieren.

Die Warnung im Titel „Lass den Glasball nicht fallen!“ gilt deshalb in erster Linie für mich selber.

Welchen Glasball hast du in der Vergangenheit zu oft fallen gelassen? Wie kannst du ihn in deine Jonglage integrieren, ohne dass er künftig zu Boden fällt?

1 Ich rechne hier vereinfachend mit der zu erwartenden realen Durchschnittsrendite von 5% für den gesamten Zeitraum. Die Renditen von 2009 bis 2015 direkt nach der Finanzkrise waren natürlich deutlich höher, aber der langjährige Durchschnitt dürfte sich im Bereich von 5% einpendeln.