Sammy lernte ich vor etwa vierzehn Jahren an unserer Schule kennen. Er war eine oder zwei Klassen über mir und wurde schnell eines meiner Vorbilder.

Er war ein sportlicher Sonnyboy. Immer einen frechen Spruch auf der Zunge, aber nie überheblich. Ehrgeizig, aber nicht verbissen. Stellte sich nie in den Mittelpunkt, war eher höflich zurückhaltend. Auch wenn er haushoch überlegen war, liess er einen das nie spüren. Alles schien ihm so leicht zu fallen – und wenn einmal etwas nicht gelang, nahm er das mit einer gesunden Portion Gelassenheit.

Eine einzige Sekunde, die alles ändert

Ein paar Jahre, nachdem wir die Schule beendeten, hatte er einen Unfall. Er rutschte auf dem Steg eines Flussbades aus und stürzte ins Wasser, wo er unglücklich auf ein Betonelement fiel.

Plötzlich war er vom Hals abwärts gelähmt.

Normalerweise halte ich mich gerne an wissenschaftliche Fakten für alles, was auf unserer Welt passiert. Wenn die Wahrscheinlichkeit für ein bestimmtes Ereignis X Prozent beträgt, dann tritt dieses Ereignis halt eben mit besagter Wahrscheinlichkeit ein.

Für einen derartigen Vorfall ist so eine „simple“ Erklärung aber immer schwer zu akzeptieren. Dass so etwas im eigenen Bekanntenkreis oder sogar einem selber passiert, hält man sowieso für unmöglich. Und wie konnte es überhaupt sein, dass Sammy nicht im Fluss ertrank? Wie konnte es sein, dass einer der Helfer realisierte, dass er unter Wasser auf das Betonelement fiel und sein Genick praktisch gebrochen war? Wie war es möglich, dass er nicht während der Bergung tödlich verletzt wurde? Dafür musste es einfach einen Grund geben, der über einfache Wahrscheinlichkeitsrechnung und unglücklichen Zufall hinausgeht.

Ich mag den Gedanken, dass das Universum die guten Menschen belohnt und die, die Schlechtes tun, bestraft. Er suggeriert Kontrolle über Ereignisse, die sich eigentlich unserem Einflussbereich entziehen („ich muss einfach nur Gutes tun, dann passt das Universum auf mich auf“). Ausserdem macht er es einfacher, den eigenen Groll zu verdrängen, wenn uns Unrecht getan wurde, da man „weiss“, dass die Täter schon irgendwann von einer unsichtbaren Kraft zur Rechenschaft gezogen werden.

Auch diese Theorie funktionierte hier natürlich nicht. Was sollte Sammy schon Schlechtes getan haben, dass er dies verdient hatte?

Vielmehr schien es so, als hätte das Universum jemanden gebraucht, von dem es wusste, dass er stark genug war, einen solchen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Jemanden, der stark genug war, um künftig als Leitstern denen den Weg zu weisen, denen Ähnliches widerfahren war.

Als ich Sammy etwa ein Jahr nach seinem Unfall das erste Mal wieder sah, hatte ich Angst vor der Begegnung. War er noch der gleiche Mensch wie zuvor? Früher verband uns hauptsächlich der Sport, den wir gemeinsam trieben. Hatten wir jetzt überhaupt noch Gesprächsstoff und ausreichend Dinge, die uns verbanden, auch wenn wir uns jetzt nicht mehr zusammen auf ein Beachvolleyball-Feld stellen konnten? Und wie sollen wir uns überhaupt begrüssen? Seine Hand kann er kaum noch bewegen – geben wir sie uns trotzdem?

Heute schäme ich mich für diese Gedanken, die sich letzten Endes nur um mich drehten. Statt mich einfach nur aufrichtig zu freuen, ihn wiederzusehen, sorgte ich mich, möglicherweise ein Vorbild verloren zu haben.

Nachbarschaft mit vielen Erkenntnissen

Ein paar Jahre nach dieser Begegnung wurden wir Nachbarn.

Eines Tages traf ich ihn in der Bahn, als ich von der Arbeit nach Hause fuhr. Auf dem Heimweg vom Bahnhof zur Überbauung, in der wir beide wohnten, kamen uns drei Personen entgegen, die ihn alle mit seinem Vornamen grüssten. Als ich ihn fragte, wer das denn alles war und woher er diese Leute kannte, erwiderte er, dass sie auch alle in unserer Überbauung wohnten. Er hätte im Sommer viel Zeit im Keller verbracht, da es dort kühler war als in seiner Wohnung. Da er seit seiner Lähmung nicht mehr schwitzen könne, müsse er aufpassen, welchen Umgebungstemperaturen er sich aussetzt. So lernte er alle Leute kennen, die aus der Tiefgarage kamen oder etwas aus ihrem Kellerabteil holten.

Erst da realisierte ich überhaupt langsam, dass die Konsequenzen einer solchen Lähmung so viel weitreichender sind, als dass die Betroffenen ihre Extremitäten nicht mehr oder nur noch sehr eingeschränkt bewegen können. Es bedeutet beispielsweise, dass Sammy bei einer Spazierfahrt durch die Natur seine Route mit Bedacht wählen muss, da er sich Fliegen und Mücken, die ihn belagern könnten, nicht selber aus dem Gesicht streichen kann.
Auch ist, wie bereits erwähnt, die Regulierung der Körpertemperatur nicht mehr so einfach. Bei Überhitzung kann sein Körper nicht mehr schwitzen und wenn er friert, kann er sich durch die eingeschränkte Mobilität nicht durch Bewegung oder Händereiben selber aufwärmen. Er kann sich weder selber eine Jacke anziehen, noch eine Kapuze überziehen.
Ausserdem kommt täglich um sieben der Pflegedienst für das morgendliche Programm – mal spontan eine Stunde länger zu schlafen und sich noch einmal umzudrehen, ist nicht mehr möglich.
Zudem funktionieren diverse innere Organe nicht mehr wie davor und sind anfälliger auf Infektionen, die schnell lebensbedrohlich werden können.
Und, und, und …

Fast bei jeder unserer Begegnungen erfuhr ich von einer neuen Schwierigkeit, mit der er plötzlich zu kämpfen hatte. Und mit jeder neuen Erkenntnis wurde mir ein bisschen klarer, wie lächerlich meine eigenen Problemchen sind.

Nicht, dass Sammy sich aber je beklagt hätte! Er erklärte lediglich sachlich, wenn ich nachfragte.

Das Projekt

Eines Wintertages vor einem knappen Jahr erzählte mir Sammy, wie er den Winter früher liebte, jetzt aber kaum noch aus dem Haus möchte, weil er schnell auskühlt und sich dann nicht mehr gut aufwärmen kann. In seiner Wohnung wurde extra ein Heizstrahler angebracht, unter welchem er sich aufwärmen konnte, nachdem er draussen in der Kälte war. Sogar dieser Strahler sei jedoch viel zu schwach und es dauere Stunden, bis er wieder auf eine angenehme Temperatur komme.

Statt eines solchen Strahlers bräuchte er eher einen kleinen Raum, den er auf eine ausreichend hohe Temperatur aufheizen kann, erwähnte er beiläufig. Eine Mini-Sauna, die er direkt mit seinem elektrischen Rollstuhl befahren könnte.

„Alles klar!“, nahm ich die Idee auf. „Ich kann kaum Regale des schwedischen Möbelherstellers zusammenbauen, aber lass uns diese Mini-Sauna bauen!“

So fing ich an, ein paar Skizzen anzufertigen, wie das Ganze meiner Meinung nach funktionieren sollte. Bislang hatte ich keine praktische Erfahrung in der Arbeit mit Holz. Ich hatte aber einige Tiny-House-Dokus auf Youtube gesehen und im Grunde unterschied sich ja so eine geheizte Box, die wir bauen wollten, nicht gross von einem Tiny-House! Sie war nur ein bisschen kleiner und einfacher.

Meine Pläne zeigte ich einem befreundeten Schreiner. Er zerpflückte sie, ich korrigierte. Das Ergebnis sah etwa so aus:

Die Heizbox sollte so gross sein, dass Sammy mit seinem elektrischen Rollstuhl Platz hat, aber so klein wie möglich, damit sie schnell und effizient aufgeheizt werden konnte. Sammy sollte die Box völlig autonom ohne fremde Hilfe nutzen können. Die Tür musste er also alleine öffnen und schliessen können und geheizt werden sollte über einen elektrischen Wandkonvektor, den er über sein Smartphone, das an der Armlehne seines Rollstuhls befestigt ist, steuern kann.

Die Materialkosten inklusive WLAN-fähige Heizung kalkulierte ich auf rund 1’800 Franken. Diesen Betrag war Sammy die Box wert. „Dann gehe ich dieses Jahr halt nicht in die Ferien.“

Da hatte Anika die Idee, eine kleine Crowdfunding-Kampagne zu starten. In nur etwa drei Wochen kam so ziemlich mühelos der benötigte Betrag aus Sammys und unserem Freundeskreis, unseren Familien und von Arbeitskollegen und ein paar entfernteren Bekannten zusammen. Sammy musste seine Ferien also nicht streichen.

Parallel begann ich mit dem Bau der Box. „Ist ja eigentlich ziemlich simpel“, dachte ich. „In einem oder maximal zwei Wochenenden bin ich damit fertig.“

Pustekuchen! Als absoluter Laie kam ich nur sehr langsam voran und der eine oder andere Fehler verzögerte die Fertigstellung weiter.

Im März begann ich mit dem Bau und erst im November wurde die letzte Schraube im Holz versenkt. Dabei war ich immerhin fast jedes Wochenende mindestens ein paar Stunden mit der Box beschäftigt. Und ohne die tatkräftige Unterstützung meines Vaters und einiger Freunde hätte alles noch viel länger gedauert!

Auch wenn viel später als erwartet, konnten wir die Box doch noch rechtzeitig montieren. Pünktlich auf die kalte Jahreszeit konnte Sammy sie schliesslich in Betrieb nehmen.

Die Zutaten für ein gutes Leben

Sammy nahm mich gerne hoch wegen meines „No-Fun-Life“, wie er es scherzhaft taufte. Schliesslich gab ich wenig Geld aus, ging immer früh schlafen, hatte keinen Fernseher und trank keinen Alkohol mehr.

Selbstverständlich führe ich aber alles andere als ein No-Fun-Life! Partys das ganze Wochenende, Netflix-Serien en masse und tolle Autos sehen nach einer Menge Spass aus – das sind allerdings alles Dinge, die leider nicht nachhaltig glücklich machen, weswegen ich heute mehrheitlich darauf verzichte.

Zu einem wirklich guten Leben gehören eher gute Beziehungen, das Lernen neuer Fähigkeiten, einen gemeinnützigen Beitrag zu leisten oder das gute Gefühl, das durch den Körper strömt, wenn man ein Projekt von A bis Z durchgezogen hat. «Produzieren, statt konsumieren», lautet die Devise!

Vielleicht hast du erkannt, dass die Konstruktion und der Bau dieser Box viele der oben genannten Aspekte abdecken. Wir können hier ziemlich viele Fliegen mit einer Klappe schlagen!

Am wichtigsten am ganzen Projekt: Sammy bekommt ein Stück Autonomie und Lebensqualität zurück. Dank der Box kommt er hoffentlich wieder schneller auf angenehme und gesunde Körpertemperaturen und kann den Winter wieder etwas mehr geniessen.

Ich selber bin jedoch alles andere als ein edler Ritter, der das völlig uneigennützig tat, sondern ich profitierte auf vielen Ebenen:

  • Ich lernte das Design-Tool SketchUp kennen (wird vielleicht irgendwann nützlich, um einen Camper-Van-Umbau oder ein Tiny-House zu konstruieren).
  • Ich habe erkannt, wie einfach sich durch Crowdfunding-Kampagnen Geld für gute Zwecke sammeln lässt.
  • Ich habe zum ersten Mal etwas aus Holz gebaut, das über ein Modellflugzeug hinausgeht. Dabei habe ich sowohl in der Planung als auch beim Bau aus meinen Fehlern gelernt, was mir bei künftigen Projekten helfen wird.
  • Etwas Gutes getan und jemandem geholfen zu haben, gibt ein gutes Gefühl.
  • Die körperliche Betätigung ist gesünder als ein Netflix-Nachmittag auf der Couch.
  • Während des Baus habe ich viel Zeit mit meinem Vater verbracht, was unsere Beziehung gefestigt hat.
  • Wie schon erwähnt, gibt es auch immer ein gutes Gefühl, ein Projekt von A bis Z durchgezogen zu haben.
  • Es hat Spass gemacht!

Er leuchtet heller als je zuvor

Die Box steht nun also seit einem Monat in Sammys neuer Wohnung. Er ist vor einem halben Jahr aus der Überbauung ausgezogen und auch wir haben unsere Wohnung Ende November abgegeben. Die Begegnungen mit Sammy werden jetzt also leider seltener. Anika und ich sind uns einig, dass er die Person ist, die uns im vergangenen Jahr am meisten beeindruckt und inspiriert hat. War er vor 14 Jahren schon ein grosses Vorbild, lässt sich kaum in Worte fassen, wie viel Respekt er heute verdient.

Er hat die Rolle als Leitstern, die ihm offenbar zugedacht wurde, angenommen. Sein Ingenieur-Studium, das er vor seinem Unfall begonnen hatte, hat er mittlerweile erfolgreich abgeschlossen und damit das Unmögliche möglich gemacht.